Man trinkt zum Erzählen

"Hoch die Hände - Wochenende!"

Man trinkt zum Erzählen

Ey Marius, die Party am Wochenende: Übelstgeil! Einfach übelstgeil! Kommste am Freitag ins Löh?“ sagt sein Freund lachend, als er an ihm vorbei geht.

Hä? Was ist passiert? Was du wieder angestellt? Ach die Birthdayparty von Felix, oder was?“ wird er von einem anderen Freund gefragt, der bereits ein großes Grinsen auf seinem Gesicht hat.

Jaaaa, da war ja die Party und da hab ich bisschen getrunken und das eine hat halt zum anderen geführt! Wie man's kennt eben!“ erzählt der Protagonist geheimnisvoll. Aber um das zu erklären, spulen wir etwas vor.

Freitagabend. Die Schlange vor dem Club wird immer länger und länger.

Heute wird gefeiert – und eins darf sicherlich nicht fehlen. Der goldene Trank, das ewige Elixier, der heilige Sirup, der den Gummibärenbande ihre Superkräfte verleiht.

Die Rede ist vom Alkohol.

Das Must-have für jeden tollen Abend. Quatsch! Die Zauberformel, damit der Abend überhaupt erst toll wird!

Mit diesem besten Freund werden so manche Wunder wahr. Damit man auch keines dieser Wunder verpasst, wird auch sehr fleißig vorgetrunken. Ein Warm-up für die eigentliche Party.

Ob mit oder ohne Vortrinken, spätestens im Club erkennt jeder den Adrenalin, der durch den ganzen Körper schießt und die rasche Persönlichkeitsänderung schlägt zu.

Die Schüchternsten werden nach wenigen Schlücken ganz offen, die Verkrampftesten werden zu Micheal Jackson Doppelgänger auf der Tanzfläche und andere trauen sich viel mehr zu und mutieren zu Hulk.

Doch das wahre Phänomen findet erst einige Tage nach der „krassesten und dicksten“ Party statt. Genauer gesagt zum Zeitpunkt oder zum Akt, in der man das Wochenende Revue passieren lässt und seinen Freunden ganz ausführlich und in allen Details seinen heldenhaften und abenteuerlichen Abend auf dem wohl silbernsten aller silber Tabletts serviert!

Sie erzählen von ihren besonderen Errungenschaften, schildern ihre glorreichen Taten, loben ihren starken und belastbaren Körper und schmücken somit ihre Rede.

Ihr Publikum: Freunde, die am Abend und im Club anwesend waren, Freunde, die den Abend nur durch die Snapchat-Stories verfolgt haben und auch Fremde, die zum Zeitpunkt des Erzählen einfach nur da sind.

Denn der Schauplatz ist egal, schließlich ist jeder Ort gut genug, um die Legende des tapferen und tollkühnen, des beliebten und begehrten und des verführerischen und verlockenden Hauptdarstellers zu erzählen. Ob Bus oder Bahn, Parkplatz oder Pausenhof.

Dieses Phänomen lässt sich nach jeder „fetten und geilen Party“ beobachten. Ein Beispiel: drei Jugendliche aus der Oberstufe sitzen im Foyer oder draußen auf einer Parkbank. Thema ist natürlich, die Geschehnisse auf der Geburtstagsparty eines Mitschülers am Wochenende. Sie beginnen das Gespräch, indem sie zunächst mal die Party bewerten.

Obwohl alle drei gemeinsam vortrinken waren und sich anschließend auf den Weg zum Geburtstagskind gemacht haben, verloren sie sich bereits nach 20 Minuten in der Masse. Und somit nimmt alles seinen Lauf. Denn am Ende hat man drei Geschichten, die sich sicherlich und mit der größten Wahrscheinlichkeit auch so zugetragen haben, wie sie auch wahrheitsgemäß erzählt wurden.

Um dieses Phänomen verständlich zu erklären, konzentrieren wir uns nur auf einen der Protagonisten

Er beginnt mit Gelächter und Zustimmung typische Sätze wie: „Boah, die Party war ja mal so geil!! Ich kann mich zwar nicht mehr erinnern, aber einiges weiß ich noch“ oder „Ich weiß nur noch wie ich nach dem dritten Bier und nach einigen Shots in der Ecke lag und das Weib auf mir“ zu sagen.

Aber das ist erst der Anfang des Phänomens.

Denn mit der Zeit und im Laufe des Erzählens steigert sich das Selbstbewusstsein und seine Fähigkeit realistisch bzw. realitätsnah zu schildern, ins Unermessliche.

Er veranschaulicht, dass er bereits kurz nach seiner Ankunft die heißen Blicke der weiblichen Gäste gespürt hat. Er trank einen Schluck des Wunderwassers und tanzte drauf los. Kurz darauf kamen ja auch schon die ersten Mädels, die er alle samt charmant „betanzt“ hat.

Er erzählt seinen Freunden anschließend, dass er sich schweren Herzens von seinen unzähligen Tanzpartnerinnen löste, um zu seinen Kumpels zu gehen, die bereits sehnsüchtig auf ihn gewartet haben, um mit ihm das berüchtigte „Beer-Pong“ zu spielen. Und auch dabei wird zusätzlich viel getrunken.

Mittlerweile hat sich das Publikum auf weitere Freunde erweitert. Diese sind zum richtigen Zeitpunkt gekommen, denn von wem würden sie ansonsten erfahren, dass er tatsächlich auf der Party beim Trinkspiel „rasiert“ hat. Unser Held sonnt sich – wenn auch unbewusst - in der Anerkennung seines Publikums, die ihm gespannt zuhören.

Er gibt zu, dass er es nicht mehr ertragen konnte, die Mädels, mit denen er vorher gemeinsam getanzt hat, alleine und hilflos herumschwirren zu sehen und machte sich gentlemanlike wieder zurück zu seinen edlen Bekanntschaften. Er gönnt sich noch eine Flasche des Elixiers, bevor er sich den Mädels zuwendet.

Kaum angekommen, werden sie auf ihn aufmerksam und tummeln sich um ihn herum. Sie schmiegen sich an seinem Körper und er schafft es in das ein oder andere Ausschnitt zu blicken. Nach dieser Tanzeinlage bedanken sie sich bei ihm, in dem die Nummern ausgetauscht werden. „Dann kam die eine von der Seite und ihre Freundin von der anderen. Alter, ich kam nicht mehr klar! Beide haben mich so krass angetanzt! Und irgendwann gibt die eine mir ihre Nummer! Beste!“ In diesem Moment kommt ein lautes Grölen von seinem männlichem Publikum und er selbst lässt sich glorreich feiern. Ein ganz großes und auch sehr stolzes Lachen zeichnet sein Gesicht.

Er fühlt sich sichtlich pudelwohl, während er all das preis gibt, was anscheinend passiert sein soll.

Unser Held weiß aber auch, dass jede gute Geschichte einen Tiefpunkt hat und diesen bereitet er vor. „Nach den ganzen Weibern wollte ich noch mal ne Flasche Bier holen und mich kurz setzen- mir war auch schon bisschen schlecht, weiste. Aber dann ruft mich Felix und sagt ich soll nochmal Beer-Pong spielen. Ich so, nein alter ich kann nicht mehr – ich kotz gleich, der so doch. Und dann hab ich zugesagt, ich kann den alten Felix ja nicht hängen lassen!“

Aber auch das Erzählen dieser Tat kommt nicht zu kurz. Ganz im Gegenteil: das wird nämlich äußerst ausführlich geschildert und bildlich dargestellt „Ich hab dann noch schnell die halbe Flasche weggeext und wollt dann aufstehen und zu ihm gehen. Aber hätte ich lieber mal sein lassen sollen, alter! Ich steh auf und ich konnte nicht mehr! Ich hab angefangen so krass zu husten und dann kam es einfach alles raus. Einfach so! Ich hab so krass gekotzt. Auf den Teppich und irgendwie – ich weiß selber nicht wie das geht- an die Wand und an die Decke. Hahah“ Er selbst lacht, sein Publikum zieht eklige Gesichter aber beharren dennoch darauf, dass die Legende weiter erzählt wird. Seine Geschichte von einer „überkrassen“ Nacht wird fortgesetzt. Jetzt, nachdem er und sein Magen sich ausgeruht haben, setzt er sich auf das Sofa und ist zum ersten Mal nicht im Mittelpunkt. „Felix schaut mich nur noch an und schreit ganz laut „Bah!“ und lacht sich dann ab. Ich hatte kein Bock mehr, hab mich bisschen saubergemacht und wieder aufs Sofa gesetzt. Ich dachte mir nur noch „Hoffentlich muss ich den Scheiß nicht wegmachen, haha!“ Kurz darauf aber kommt eines seiner heißen Tanzpartnerin,die sich neben ihn auf das Sofa setzt und anfängt mit ihn zu quatschen. „ Jetzt hört mal zu. Aber dann kam das eine Mädchen, die mir ihre Nummer gegeben hat und setzt sich zu mir. Ich dachte, die würde mich dumm anlachen wegen der Kotzaktion, aber nein. Die lacht selber und fängt an mit mir zu reden!“, sagte er unfassbar stolz. Er fährt fort und sagt, sie seien ins Gespräch gekommen, und wurden auch zärtlicher, laut unserem Protagonisten. Er prahlt heroisch wie er sich trotz seines Fauxpas das Mädchen für sich entscheiden konnte.

Auf die Frage seines Publikums, ob zwischen ihm und ihr etwas gelaufen sei, antwortet er mit einem unheimlichen coolen Lächeln und einem „Dazu gibt’s kein Kommentar“, worauf er zum Einen Applaus erntet und zum Anderen abgeklatscht wird.

Sein Publikum, dass sich in der Zwischenzeit wieder vergrößert hat, feiert ihn. Er hat sie zum Lachen, zum Staunen und sogar zum Klatschen gebracht.

Spass, Alter! Die hat ja auch schon bisschen getrunken und meinte „Komm wir gehen oben weiter trinken“ und dann sind wir halt nach oben gegangen und kamen nach ner halben Stunde wieder zurück. Aber was in dem Zimmer passiert ist, sag ich jetzt nicht!“ fügt er noch schäbig hinzu.

Und genau in diesem Moment hat sich unser Held selbst zum Kampf aufgefordert. Denn genau dieses kleine Detail, das doch so immens wichtig erscheint, hat ihn alles gekostet – jedenfalls die Hälfte seines Publikums. Schließlich glauben sie ihm nicht mehr und bezweifeln stark, dass nach man nach so einem Abend einen Partner für die Nacht gewinnt. Auf die Vorwürfe seines Publikums wie „Ach, als ob!“, „ Junge, du hast janz einfach zu viel getrunken und weißt nichts mehr“ oder einfach ein schlichtes „Halts Maul“ reagiert unser kleiner Protagonist mit einem einfachen Schulterzucken und versucht erst im Nachhinein die Glaubwürdigkeit seines Publikums zu retten „Ich schwörs euch, das hat die wirklich gemacht. Ich selbst kam auch nicht drauf klar – aber hey, das war mir in dem Moment egal“ sagt er lachend und hofft auf die Rückkehr seiner Publikums.

Während er sein Wochenende geschildert hat, hat er – wie auch beim Feiern – an Selbstbewusstsein und mentale Größe stark zugenommen. Es geht schließlich nicht darum, was erzählt werden soll, sondern wie! Dass ein Großteil so nicht der Wahrheit entspricht, geschweige denn überhaupt, dass fällt keinem auf und es wird von vornerein ausgeblendet. Denn es scheint, als ob durch das bloße Reden von Alkohol und was mit ihm verbunden ist, der Erzähler und sein Publikum die Wirkung des heiligen Trankes erleben. Zwar werden sie nicht betrunken verlieren aber ihre Hemmschwellen, trauen sich mehr zu, überschätzen sich, fälschen die Realität und geben das Intimste preis, was alles mit großer Zustimmung, Jubel und Beifall aufgenommen und weiter unterstützt wird.

Es ist doch unglaublich überraschend, dass man durch das Erzählen vom Suff, so viel positives Feedback bekommt und so stark angefeuert wird.

Umso unglaublicher und überraschender ist doch die Reaktion des Publikums. Sie glorifizieren ihn und seine „Heldentaten“ und wagen es nicht es ihn Frage zu stellen. Sie nehmen es letztendlich so hin und glauben fest, daran, dass es der Abend sich so zugetragen hat.

 

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